Freitag, 11. April 2014

Was bleibt


Zeit. Sie brauchte Zeit, die sie nicht mehr hatte. Immer wieder ertappte Simone sich dabei wie sie ihren Kopf abtastete, der sich von außen völlig normal anfühlte.
Warum ich? Fragte sie sich, und, warum jetzt?
Morgen würden sie ihr den Schädel aufsägen und nachsehen, ob sie noch zu retten war.
Sie hatte Angst. Angst nach der Operation die Augen zu öffnen, die Blicke der Schwestern und Pfleger zu sehen, das Kopfschütteln, eine Hand auf der Schulter zu spüren und die bedeutungsschweren Worte ins Ohr geraunt zu bekommen:
Es tut uns leid, Frau Tielmann, aber wir können nichts mehr für Sie tun.
Vor einer halben Stunde war die Nachtschwester vorbeigekommen. Wie sie es immer tat, nach der Übergabe. Ob sie vielleicht eine Schlaftablette wollte, hatte sie Simone gefragt. Aber Simone wollte nicht. Sie wollte sich nicht einem künstlichen Schlaf, einer künstlichen Ruhe hingeben. Lieber die ganze Nacht wachliegen, dem Schattenspiel des Baumes an der Zimmerdecke zusehen und sich verrückt machen.

Mit siebenundvierzig sollte man das Wesentliche im Leben schon erreicht haben, dachte sie, man sollte in der Lage sein loszulassen, gehen können.
Ihr war, als griffen die Schatten der Äste nach ihr. Versuchten sie aus dem Bett zu zerren, herumzuwirbeln – solange, bis sie nicht mehr wissen würde wo oben oder unten ist. Bis sie sich ganz verlor. Sie wollte den Kopf fortdrehen, dem Sog entkommen, aber sie konnte den Blick nicht von der Zimmerdecke lösen.
Wie es sich wohl anfühlte, dieses sich selbst verlieren? Sich auflösen? Heißt es nicht, wenn jemand verschwindet, er habe sich in Luft aufgelöst? Oder in Nichts?
Simone zog die Augenbrauen zusammen. Man kann sich nicht in Nichts auflösen. Entweder man ist oder man ist nicht. Aber wenn man nicht mehr ist, was ist man dann?
Sie versuchte die Gedanken wegzuschieben und drehte nun doch den Kopf. Der Wecker auf dem Nachttisch fing ihren Blick ein. Er war schon da, bevor sie angekommen war und er würde noch hier stehen, wenn sie längst gegangen war. Jede Sekunde änderten sich die Zahlen ganz rechts auf dem Display. Geräuschlos. Hätte sie nicht hingesehen, hätte sie nicht bemerkt wie zwischen jedem ihrer Atemzüge die Zeit versickerte. Unumkehrbar, nicht aufzuhalten und unwiederbringlich.
Halt! Schrie sie den Wecker lautlos an. Steh still, hör auf mir die Zeit zu stehlen!
Unbeeindruckt wanderten die Zahlen weiter. Von 00 bis 59 und wieder von vorne.
Der Anblick ließ ihren Atem stocken. Ihr war, als wäre das Ende jetzt schon zum Greifen nahe.
Halte endlich an! Brüllte sie lautlos. Und weil er nicht auf sie hörte nahm sie ihr Kopfkissen und deckte ihn damit zu.
Es half nichts, die Zahlen wanderten in ihrem Kopf weiter. Jetzt, wo es ihr bewusst geworden war, war jeder Atemzug ein gezählter. Bis irgendwann der letzte kam.
Du kannst mich verdecken, aber du kannst mich nicht aufhalten, lachte der Wecker über sie, ich bin unsterblich, nicht wie du.
Ich kann dir die Batterie rausreißen, wenn du nicht anhältst, du dummes Ding - dann werden wir ja sehen wie weit es her ist mit deiner Unsterblichkeit! Sie hatte Mühe die Tränen aufzuhalten.
Mach ruhig, höhnte er, wenn sie dich geholt haben werden sie mich finden. Ich werde die Sekunden noch zählen, wenn du längst vergessen bist.
Sei still! Sie schlug auf das Kissen.
Es ist zwecklos, dachte sie, griff sich mit beiden Händen ins Haar und legte den Kopf auf ihre Knie.
Vergessen? Wenn ich wirklich sterben muss, werden sie mich vergessen?
Ist der Tod das Ende? Heißt es nicht auch die Toten würden nach Hause gehen?
Nach Hause, wiederholte sie den Gedanken, stieg aus dem Bett und schlich barfuß zum Fenster.
Wo ist das – nach Hause? Ihre Finger berührten die Scheibe, als wollten sie die Antwort greifen.
„Können Sie auch nicht schlafen?“, brach ein heißeres Krächzen aus dem Nachbarbett die Stille im Zimmer.
Simone wollte herumfahren und ihre Mitpatientin anschreien: Sei still! Lass mich in Ruhe, du verstehst nichts, rein gar nichts!
Stattdessen blieb sie stehen, den Blick weiter in die nur von der Straßenlaterne durchbrochene Dunkelheit vor dem Fenster gerichtet. Am Nachmittag hatte sie Tränen in den Augen der Alten schimmern sehen. Lange, nachdem der Besuch die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Sie räusperte sich und es war mehr als spräche sie mit jemand Unsichtbaren hinter der Scheibe, als mit der Frau im Bett neben ihr. „Und Sie? Denken Sie noch an Ihren Besuch?“
„Nein.“ Die Antwort kam schnell.
„Ihre Kinder wollen nicht, dass Sie wieder nach Hause gehen?“, hakte Simone dennoch nach.
„Nein.“
„Ist vielleicht besser so, oder nicht?“
„Bestimmt.“ Die Alte holte zweimal Luft, ehe sie mit einer Gegenfrage das Thema wechselte. „Und Ihre Familie? Kommt sie nicht zu Besuch?“
Simone schüttelte den Kopf. „Nein, meine Tochter lebt weit weg. Ich habe ihr gesagt, dass es nur ein Routineeingriff ist und sie nicht zu kommen braucht.“
„Was ist mit Ihrem Mann?“, fragte die Alte wie man etwas fragt, von dem man weiß, dass es einen nichts angeht.
„Wir sind geschieden.“
„Verstehe.“
Sie schwiegen.
Simone strich mit den Fingern über die Scheibe und lehnte ihre Stirn dagegen. Das Glas kühlte die Haut und sie schloss die Augen. Nach – Hause - gehen.
Einfach aufhören zu Sein, dachte sie, atmete hörbar aus, als erwartete sie das gleich alles von ihr abfallen würde. Wenn ich mich auflöse, dann höre ich auch auf zu fühlen, oder? Kein Schmerz, keine Angst, keine Fragen, einfach nichts mehr.
Die Erleichterung blieb aus. Stattdessen beschleunigte sich ihr Herzschlag so sehr, dass sie fürchtete ihr Herz würde jeden Moment ins Stolpern geraten und zusammenbrechen. Sie wich von der Scheibe zurück. Die Kälte war plötzlich unangenehm.
Da war er wieder, der Hohn des Weckers: Wenn sie dich längst vergessen haben…
Sie musste an den Film denken, in dem ein kleines Mädchen beginnt in ihrem Schutzraum, einem alten Karton, Höhlenzeichnungen über ihr Leben anzufertigen:
„When I die, the scientists of the future, they’re gonna find it all. They gonna know, once there was a Hushpuppy and she lived with her Daddy in the Bathtub.“
Etwas Bleibendes. Etwas von Bedeutung. Sie überlegte, aber sie fand nichts, was der Zeichnung wert gewesen wäre. Nichts an ihrem Leben war von Bedeutung.
Mit siebenundvierzig hat man das Wesentliche schon erreicht, dachte sie und schüttelte den Kopf.
„Aber es ist kein Routineeingriff?“, störte die Alte erneut ihre Gedanken.
Simone brachte nicht mehr als ein Flüstern zustande. „Nein.“
„Warum haben Sie es ihr nicht gesagt?“
„Ich…“ Simone brach ab und blickte zu ihren Füßen.
Was sollte sie antworten? Weil ich sie nicht in Verlegenheit bringen wollte? Weil ich es nicht ertragen hätte auf sie zu warten? Weil ich Angst hatte, sie würde nicht kommen?
„Sie hat viel zu tun und ich wollte sie nicht unnötig beunruhigen“, sagte sie stattdessen. „Ich meine, vielleicht ist alles auch nur ein falscher Alarm.“
Sie lauschte dem Klang ihrer Worte nach und sie kamen ihr leer vor. Erneut erfüllte die Stille den Raum.
„Ich frage mich was bleibt, wenn ich gehe“, flüsterte sie.
Sie hörte die Bettdecke rascheln und das Seufzen der Alten, aber sie drehte sich nicht um. Ihr Blick ruhte wieder auf dem Baum vor dem Fenster, dessen schwarzer Umriss sich vor der Straßenlaterne abhob. Beinahe, als sei er ihr stummer Zuhörer.
„Und Sie?“, fuhr sie fort, „Gibt es in Ihrem Leben etwas von Bedeutung?“
Die Alte räusperte sich. Einmal, zweimal.
Erst nach dem dritten Räuspern antwortete sie. „Ich habe meine Kinder groß gezogen…“
Die dich jetzt in ein Altenheim abschieben wollen, dachte Simone, aber sie sprach es nicht aus.
„Habe gestritten, gelacht, geliebt und gekämpft…“
„Und was bleibt? Ich meine, was bleibt, wenn Sie nicht mehr hier sind?“ Simone wollte nicht gemein sein, und doch wollte sie hören, dass auch das Leben der Alten nichts von Bedeutung überdauern würde.
„Was bleibt? Was bleibt sind die Erinnerungen.“
„Erinnerungen?“, fragte Simone und dachte dabei: Das kann nicht ihr Ernst sein.
„Ja, manchmal sehe ich alles so deutlich vor mir, als wäre es gestern gewesen und ein anderes Mal verblasst es, verliert die Form, den Sinn.“ Die Alte schwieg einen Moment. „Aber meine Kinder, die werden sich erinnern.“
Simone biss die Zähne zusammen. Woran würde ihre Tochter sich erinnern?
Once, there was a Hushpuppy and she lived with her Daddy in the Bathtub
Unvermittelt schwang die Tür auf und unterbrach das Gespräch der beiden Frauen. Simone erkannte den Pfleger am Räuspern, sie drehte sich nicht um. Er war ein kleiner Kerl, der immer so wirkte, als wäre er schon auf dem Weg woanders hin. Simone mochte ihn nicht, er machte sie nervös und er gab ihr das Gefühl zu stören. Stören bei seiner wichtigen Aufgabe, sich um die anderen Patienten zu kümmern. Als sei jede Sorge für sie jetzt schon eine Verschwendung. Als wäre sie eigentlich schon tot.
Er machte die Notbeleuchtung an, die Kanten des Zimmers wurden in orange-rotes Licht getaucht. Simone war ihm dankbar, dass er auf das Neonlicht verzichtete. Sie hörte ihn durch den Raum eilen, konnte sich aber nicht entschließen ihn anzusehen. Er legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie blickte immer noch zum Fenster hinaus. Mit Mühe widerstand sie dem Impuls zurückzuweichen, empfand sie die Hand doch wie eine Last, die sie zu Boden drückte. Er war ihr fremd. Aber er stand so dicht neben ihr, als seien sie Freunde.
„Frau Tielmann?“
„Was gibt es?“ Jetzt ging sie doch einen Schritt zur Seite und löste den Blick endlich von dem Baum.
„Ich habe einen Anruf erhalten.“ Er machte eine Pause und Simone begriff nicht warum er ihr das erzählte. „Ihre Tochter, sie, sie hatte einen Unfall.“
„Meine Tochter? Einen Unfall?“ Simone zwang sich ihn anzusehen, aber in ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. „Haben Sie mit ihr gesprochen?“
Wieder legte er ihr die Hand auf die Schulter. Diesmal wusste sie, dass sie das Gewicht nicht würde tragen können.
„Ihr Zustand ist kritisch.“
„Kritisch?“ Sie griff sich an den Hals, als hätte sie plötzlich Mühe zu atmen.
„Kann ich zu ihr? Kann man die Operation verschieben?“, fragte sie und kam sich dumm dabei vor, weil es so klang als würde sie sich mehr Sorgen um sich selbst, als um ihre Tochter machen.
Sie hörte nicht mehr was er ihr antwortete, oder ob er ihr überhaupt antwortete.
Ihre Beine gaben nach und sie griff nach dem Fensterbrett. Vergebens. Sie fiel.
Aufhören zu sein
Die Arme des Pflegers schlangen sich um ihren Bauch und schützten sie vor dem Aufprall.
Lass mich los! Ich will nicht dass du mich anfasst! Dachte sie noch, ehe sich alle Gedanken auflösten.
Nur einer blieb. Hartnäckig flimmerte er vor ihren Augen, solange, bis das ganze Bild schwarz wurde:
Once, there was a Hushpuppy and she lived with her Daddy in the Bathtub

1 Kommentar:

  1. Hmm, 27 von über 1.500 Einsendungen - wie hoch ist die Chance? Egal, dieses Mal hats nicht geklappt, aber vielleicht klappt es ein andermal. Ich muss eben besser werden! Überzeugender! ;)
    Das Zitat ist übrigens aus dem Film "Beasts of the Southern Wild"
    Wer ihn noch nicht gesehen hat sollte sich überlegen ihn vielleicht einmal anzusehen :).

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