Dienstag, 26. November 2013

Der Tod dauert das ganze Leben


Auf dem Tresen standen zwei Biergläsern. Leer. Zwei Männer erhoben sich von den Hockern, sie nickten der Barkeeperin zu. Kleingeld klimperte und blieb zwischen den Bierdeckeln liegen. Im Gehen stießen die Männer um ein Haar mit einer jungen Frau zusammen. Sie stand am Zugang zu der nun menschenleeren Hotelbar, scheinbar unschlüssig, ob sie eintreten sollte, oder nicht. Adriane lehnte hinter dem Tresen und musterte die Fremde einen Augenblick. Sie war im Alter ihrer Tochter, hatte aber deutlich mehr Gewicht auf den Rippen. Beim Abräumen stieß Adriane gegen ein Glas, konnte es im letzten Moment noch auffangen, ehe es zu Boden stürzte und wischte mit einem Lappen über den Tresen. Flüchtig, Wassertropfen blieben schimmernd zurück. Die junge Frau setzte sich auf einen Barhocker und legte einen Umschlag vor sich. Dorthin, wo Augenblicke zuvor das Kleingeld gelegen hatte. Blass sah sie aus, mit dunklen Ringen unter den Augen, als hätte sie in der letzten Nacht nicht geschlafen.
„Was darf es sein?“ Adriane klang heiser.
Die Angesprochene warf einen Blick auf die Karte. „Was können Sie mir empfehlen?“
„Dir? Vielleicht einen Orangensaft?“ Ein Grinsen machte sich auf dem Make-up bedeckten Gesicht breit und brachte die Lachfalten um die Augen zum Vorschein.


Die junge Frau hob ihr Kinn. „Ich will was Starkes, keinen Schnaps. Auch keinen Cocktail, der ist zu süß, es soll aber bitter schmecken!“
Adriane musterte sie. „So? Was für eine Laus ist Dir über die Leber gelaufen?“
Statt zu antworten warf ihre Kundin erneut einen Blick auf die Karte. „Einen Connemara.“
Adriane zögerte, als würde sie über etwas nachdenken. Dann stellte sie zwei Gläser auf die Bar und schenkte ein.
„Bitteschön, die Dame, zum Wohl!“ Sie schob der Kundin ein Glas hin und nahm das zweite in die Hand. „Wie heißt Du?“
„Lea.“
„Adriane.“
Zum Klang der aneinander stoßenden Gläser nahm jede einen Schluck. Lea verzog das Gesicht.
„Wie alt bist Du?“, fragte Adriane.
„Dreiundzwanzig.“
Adriane lachte auf. „Unglaublich, ich bin doppelt so alt wie Du! Wusstest Du…“ Sie beugte sich über die Bar und dämpfte ihre Stimme, als würde sie ein Geheimnis verraten. „Mit dreiundzwanzig habe ich meine Tochter zur Welt gebracht. Was war ich jung damals. Du bist nicht schwanger, oder?“
Lea schüttelte den Kopf und starrte auf die Flüssigkeit in ihrem Glas.
Adriane betrachtete Lea einen Moment, die sich mit hängenden Schultern auf den Tresen stützte. Aber sie musste vor allem an sich selbst denken, daran wie sehr sich ihr Leben damals durch das Baby verändert hatte.
„Vielleicht ist es besser so“, murmelte sie. Dann besann sie sich wieder ihres Gegenübers. „Was hat Dich zu uns ins schöne Essen verschlagen?“
„Meine beste Freundin Ann.“ Lea hob den Brief hoch, legte ihn jedoch gleich wieder auf den Tresen.
Adriane nickte, sagte aber nichts, als wolle sie die Andere nicht unterbrechen.
„Sie wollte mir immer ihr Essen zeigen.“
„Und jetzt bist Du alleine hier?“
Lea nickte.
„Streit?“
„Nein, oder doch, irgendwie schon. Aber wir haben uns nicht gestritten, ich bin nur sauer, dass sie nicht mitgekommen ist.“
„Hättest ja nicht kommen brauchen?“
„Hmm.“ Lea trank ihr Whiskeyglas in einem Zug leer und schob es auf die andere Seite der Bar. „Bitte auffüllen.“
„Holla, nicht so schnell, junge Dame!“ Adriane schüttelte den Kopf, holte dennoch die Flasche hervor und schenkte ihrem Gast nach.
„Auf die Freundschaft!“, sagte Lea und lachte auf.
„Auf die Freundschaft“, wiederholte Adriane und versuchte sich an das Gesicht ihrer Tochter zu erinnern.
Nicht so, wie es jetzt aussah, sondern so, wie es ausgesehen hatte, als sie noch gesund war. Aber es gelang ihr nicht. Einer plötzlichen Eingebung folgend schaute sie Lea an.
„Wenn ihr euch nicht gestritten habt, wieso ist sie dann nicht mitgekommen, Deine Freundin Ann?“
„Sie kann nicht.“
„Zu viel zu tun?“
„Nein, eher das Gegenteil.“ Leas Stimme klang seltsam tonlos.
„Na das ist mir ja eine Freundin.“ Adriane schüttelte den Kopf. „Hat sie sich verliebt?“
So war das immer. Kaum kam Liebe ins Spiel war die beste Freundin erst einmal abgeschrieben.
Lea sah ihr ins Gesicht. „Verliebt? Ja, aber was für eine Liebe, das versteht kein Mensch.“
„Wo die Liebe hinfällt, das kann man manchmal nicht verstehen.“ Adriane nahm einen Schluck Whiskey. „Wirst sehen nach ein paar Wochen renkt sich das alles wieder ein.“
Lea lachte, aber es lag keine Freude in diesem Lachen. Sie hob ihr Glas und stieß mit Adriane an.
„Warst Du da schon mal?“ Lea zog zwei Karten aus dem Umschlag.
„Zeig her.“ Adriane drehte sie zwischen ihren Fingern. „Starlight Express? Nein, für sowas habe ich keine Zeit.“
„Aber das spielen sie doch schon ewig, oder?“
„Seit 25 Jahren, ja.“
„Und Du warst noch nie da?“
„Nein.“ Adriane seufzte und starrte abwesend auf die beiden Karten in ihrer Hand.
„Ich schenk sie Dir! Die Vorstellung ist morgen Abend.“
Adriane schüttelte den Kopf und schob Lea die Karten wieder hin. „Deine Freundin hat sie Dir geschenkt und will sicher hören, wie es Dir gefallen hat.“
„Ich glaube nicht, dass ich mich mit ihr noch mal darüber unterhalten werde. Außerdem habe ich kein Auto.“
„Mit den Öffentlichen bist Du von hier aus in 20 Minuten da. Geht sogar schneller, als mit dem Auto.“ Adriane zog die Augenbrauen zusammen „Ich sag Dir doch wenn das erste Verliebt sein vorüber ist kommt sie wieder, bittet Dich um Verzeihung und dann ist wieder alles beim Alten.“
„Ich bezweifle, dass ihr Neuer sie so einfach wieder gehen lässt.“
Adriane zog die Augenbrauen zusammen. „Na hör mal, wir leben in einem freien Land. Wenn der irgendwelche Geschichten macht, dann kann sie ihn anzeigen.“
Lea starrte auf den Umschlag, ohne zu antworten. Plötzlich zog sie den Brief hervor. Sie überflog die Seiten und schien schließlich gefunden zu haben, wonach sie suchte.
„Weißt Du wo die Sonderbar ist?“
Adriane, die gerade die Gläser nachfüllte, erstarrte in der Bewegung. „Warum willst Du das wissen?“
„Ann schreibt ich soll auf jeden Fall in die Sonderbar gehen, das wäre ihr zweites Wohnzimmer gewesen.“
„Nimmt sie Drogen?“ Adriane starrte das Holz des Tresens an, als würde sie es zum ersten Mal in ihrem Leben sehen.
„Was? Nein, wieso?“
„Weil sie alle dort Drogen nehmen, deshalb.“
„Woher weißt Du das?“ Lea zog die Augenbrauen nach oben, sah aber nur kurz auf.
„Nadja ist eine Zeitlang dorthin gegangen.“ Geistesabwesend wischte Adriane wieder mit dem Lappen über den Tresen.
Ihre Hand zitterte.
„Nadja?“ Lea löste ihren Blick nun doch von dem Brief und schaute sie an.
„Meine Tochter.“ Adriane hob ihr Glas.
Erneut stießen sie an und tranken, jede mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Lea starrte wieder auf den Brief, fast als suche sie zwischen dem Geschriebenen nach einer geheimen Botschaft, die sie nicht finden konnte. Und Adriane dachte wieder an das Gesicht ihrer Tochter, so wie es heute war und daran, was sie bei diesem Familiengespräch alles zu hören bekommen hatte. Sie zündete sich eine Zigarette an und beobachtete den Rauch, der wie ein Stück Hoffnung nach oben stieg. Aber das war nur eine Illusion.
„Willst Du auch?“ Sie hielt Lea die Packung hin, doch die schüttelte mit dem Kopf. „Hast Du Recht, ist nur Geldverschwendung!“
Sie schwiegen bis Adriane den Zigarettenstummel im Aschenbecher ausdrückte, dann nickte sie in Richtung des Briefes. „Wo schickt Deine Ann Dich denn noch hin?“
Lea sah auf. In ihren Augen lag ein Schatten und es kam Adriane so vor, als würde Lea nur mit Mühe aus ihrer Gedankenwelt auftauchen.
„Ach, nichts Besonderes. Sie schreibt wie schade es ist, dass sie nicht mit mir hier sein kann, weil sie mir die richtig schönen Stellen selbst zeigen müsste.“ Lea legte den Brief auf den Tresen und stützte den Kopf in ihre Hände.
„Hmm, also wenn Du schon hier hergekommen bist, um Essen besser kennenzulernen, dann musst Du wenigstens in die Zeche Zollverein gehen.“ Adriane zwinkerte ihr zu.
„Ich weiß nicht, mir ist nicht wirklich nach Kultur…“
„Pass auf, mein Bruder arbeitet dort. Er kann Dich einschleusen und Dir eine Führung geben. Es lohnt sich, glaub mir, nicht umsonst sagen die Leute es wäre die schönste Zeche der Welt!“
Lea sah Adriane unter zusammengezogenen Augenbrauen an. Einen Moment lang glaubte Adriane die junge Frau würde ablehnen, aber dann seufzte sie und zuckte mit den Schultern.
„Meinetwegen. Kann ja nicht schaden. Wenn ich morgen schon nicht in das Musical gehe.“
„Gut, ich werde ihn nachher anrufen und Dir dann eine Nachricht auf Dein Zimmer schicken lassen.“ Adriane lächelte zufrieden. „Welche Zimmernummer hast Du?“
„Fünfzehn. Gibst Du mir noch was von dem Whiskey?“
Adriane schenkte beide Gläser nach. „Wenn Deine Freundin nicht mitgekommen ist, warum hat sie Dir dann zwei Karten gegeben?“
„Sie wollte, dass ich mit Daniel hingehe.“
„Dein Freund?“
Lea riss die Hand vor den Mund, um zu verhindern dass sie den Whiskey auf die Bar prustete. „Entschuldige. Nein, Daniel ist nicht mein Freund, er war in Ann verliebt.“
„So?“ Adriane gab sich Mühe ihre Verwirrung zu verbergen.
„Ja, typisch Ann. Sie hat immer alles genau geplant. Wollte, dass ich mit Daniel in das Musical gehe und anschließend mit ihm zusammen komme.“
„Damit sie ihn los ist wegen ihrer neuen Liebe?“
Lea stockte einen Moment, ehe sie antwortete.
„Ja, so kann man das sagen. Wollte dass ihre beste Freundin ihren verprellten Lover tröstet.“ Abermals hob sie ihr Kinn. „Ich bin aber nicht ihr Spielzeug. Und ich habe keine Lust das was sie verdorben hat wieder gerade zu rücken!“ Sie machte eine kurze Pause. „Außerdem will ich mir nicht auch noch Daniels Gejammer geben…“
Adriane musterte das Gesicht der jungen Frau vor ihr. Das Kinn vorgeschoben und dazu der Blick eines Boxers, der die Schlagkraft seines Konkurrenten vor dem Kampf abschätzt. Das erinnerte sie an Nadja. Nicht an die Nadja, die sie vor wenigen Tagen besucht hatte, sondern an die Nadja von früher. Wenn sie sich mit ihr gestritten hatte. Aber das war bevor Nadja aufgehört hatte sich zu streiten, bevor sie zu ihren neuen Freunden durchgebrannt war und ihre Mutter voller unbeantworteter Fragen zurückgelassen hatte.
„Glaubst Du an ein Leben nach dem Tod?“ Leas Frage riss sie wie ein Schlag ins Gesicht in die Wirklichkeit zurück.
„Was? Ein Leben nach dem Tod? Wie kommst Du jetzt da drauf?“
„Nur so. Glaubst Du man lebt weiter, wenn man verstorben ist? Vielleicht so als Engelchen durch die Gegend schwebend und beobachtet die Leute, die man gekannt hat?“
Adriane zündete sich noch eine Zigarette an und sah den Rauchwolken nach, die sie ausatmete. „Was für eine nette Vorstellung! Mit süßen Flügeln auf dem Rücken schwebt man den Dingen erhaben umher und beobachtet die Zurückgebliebenen.“ Sie schüttelte sich. „Nein, um Himmels Willen! Um keinen Preis wollte ich das! Dann soll doch lieber auch alles vorbei sein.“
„Aber was ist mit denen, die noch ganz jung sterben, als Kinder zum Beispiel? Ist es da nicht tröstend, wenn man sich vorstellt, dass die wenigstens als Schutzengel noch da sind?“ In Leas Augen spiegelte sich das Licht hinter dem Tresen.
Adriane sah sie lange an, ehe sie ihr antwortete. „Nein, wozu die Verstorbenen noch bemühen? Man kann nicht beides sein. Entweder man ist tot und dann ist alles vorbei, oder man lebt und hat alles noch vor sich.“
„Der Tod dauert das ganze Leben, das hat Ann immer gesagt.“
Adriane leerte ihr Glas und füllte beide wieder auf. Plötzlich durchzuckte sie ein Gedanke, sie stellte das Glas ab und sah Lea ins Gesicht. „Vielleicht hat Deine Ann gar nicht so Unrecht…“
„Wie meinst Du das?“
„Es gibt Menschen, die leben noch und man hat trotzdem das Gefühl, dass sie schon längst gestorben sind.“ Sie musste wieder an Nadja denken, an die leeren Augen und den ausgemergelten Körper.
Sie schüttelte den Gedanken fort und begann die Spülmaschine auszuräumen. Zu viele unerwünschte Bilder weckte das Gespräch in ihr, aber Lea ereiferte sich an Adrianes letzten Worten.
„Das stimmt. Aber Ann war nicht so, sie war lustig und lebendig, hat sich immer das genommen, was sie wollte und dann…“ Lea brach ab.
Adriane ließ die Spülmaschine offen stehen und drehte sich zu ihr um. Plötzlich begriff sie wovon Lea die ganze Zeit sprach. „Verliebt in den Tod? Ist es das, was Du sagen wolltest?“
Lea antwortete ihr nicht, sie begann in ihrer Tasche zu kramen. „Ich glaube ich sollte jetzt ins Bett gehen – was kostet es?“
„Was ist passiert? Ein Unfall? Oder…“ Adriane sprach ihre Frage nicht aus.
Ihr Blick fiel auf den Brief, der wieder zusammengefaltet im Umschlag steckte. Die Antwort erhellte wie ein gleißendes Licht ihren Geist. Mit klopfendem Herzen stand sie da und fand keine Worte mehr. War Nadja nicht auch immer fröhlich und lebendig gewesen bis sie, ja bis wann eigentlich? Wann hatte sie aufgehört zu lachen? Wie hatte das alles angefangen? Und warum?
‚Ihr habt mich kaputt gemacht!‘ Nadjas Stimme schnalzte wie ein Peitschenhieb durch ihren Kopf.
„Was schulde ich Dir?“ Lea legte ihren Geldbeutel auf den Tresen.
„Was? Achso, lass gut sein, geht heute aufs Haus.“ Adriane zwang sich zu einem Lächeln.
Sie würde morgen in den Supermarkt gehen und die Flasche austauschen.
„Wirklich? Aber ich kann das schon zahlen?“ Lea sah sie an.
„Nein, ist gut, solange Du mir einen Gefallen tust.“
„Was?“ Lea hob wieder ihr Kinn.
Adriane wies auf die beiden Tickets, die wie vergessen neben dem Brief auf dem Tresen lagen. „Wir gehen morgen zusammen zu der Vorstellung. Ich bin mir sicher, dass Deine Freundin Ann sich etwas dabei gedacht hat, als sie Dir die Karten gekauft hat.“
Lea biss die Zähne zusammen. „Natürlich hat sie sich dabei was gedacht, so wie sie sich immer was gedacht hat – aber warum sollte ich noch machen, was sie gewollt hat? Schließlich hat sie sich ohne ein Wort aus dem Staub gemacht.“
„Sie hat Dir nichts gesagt?“
Lea schüttelte den Kopf. Warum nicht, fragte sich Adriane ohne es auszusprechen. Wie sollte Lea die Antwort wissen? Adriane wusste, dass die Frage ihr nicht weiterhelfen würde. Sie hasste dieses ‚Warum‘, dass auch ihr nie jemand beantworten hatte können.
„Überleg es Dir - warum solltest Du ihren letzten Wunsch ausschlagen? Ich pass auf die Karten auf und frag Dich morgen noch einmal - einverstanden?“
Lea zuckte mit den Schultern und stand auf, ein schwaches Lächeln auf den Lippen. „Gute Nacht.“
„Gute Nacht.“ Adrianes Blick verfolgte die junge Frau, bis sie auf dem Gang um die Ecke gebogen war.
Wieder kam ihr Nadja in den Sinn, aber diesmal das kleine Mädchen, dass die Mutter ab und zu im Hotel besucht hatte. Adriane schüttelte den Kopf und sah auf die Uhr. Ein Uhr morgens, Zeit die Bar zu schließen.

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