Donnerstag, 16. Juli 2009

Fahrradunfall II


Constanze warf einen prüfenden Blick in ihre Handtasche während sie ihren Autoschlüssel langsam rausfischte. Dabei kam ihr ihr Handy zwischen die Finger. Sie schaute kurz auf das Display bevor sie es mit einem Seufzer wieder in ihre Tasche gleiten lies. Sie hatte Rainer doch schon vor fast vier Stunden eine Nachricht hinterlassen! Wieso war er eigentlich nicht ran gegangen? Sagte er nicht, dass er den Rest des Nachmittags mit dem Einkaufen von Weihnachtsgeschenken beschäftigt wäre? Tief atmete sie ein. Das war wiedermal so typisch für ihren kleinen Bruder! Nicht einmal die Hälfte von dem, was er einem erzählte konnte man glauben. Beim Quietschen einer Fahrradbremse zuckte sie zusammen. Schnell sah sie nach vorn. Ein dumpfer Schlag folgte dem Bremsgeräusch. Sie atmete aus, als sie feststellte, dass das Fahrrad noch ungefähr zehn Meter von ihr entfernt war. Während sie sich langsam der Szenerie näherte zogen sich ihre Augenbrauen mehr und mehr zusammen. Unbemerkt ließen ihre Finger den Autoschlüssel wieder in die Tasche fallen.

Sie sah, wie eine kleine Gestalt mit einem dunklen, dreieckigen Kopftuch sich unsicher zur Seite beugte und mit ihrem Gleichgewicht rang. Etwas fiel ihr aus der Hand und sie stieß einen leisen Schrei aus. Constanzes Herz krampfte sich bei diesem Anblick zusammen. Sie beschleunigte ihren Schritt. Die Radfahrerin, ein Mädchen, so um die zwanzig, dessen auffälligsten Kleidungsstücke eine weiße Wollstrumpfhose und ein oranger Schal waren, wendete ihr Fahrrad und wandte sich mit erhitztem Gesicht der Gestalt zu. Obwohl sie nur noch wenige Schritte entfernt war verstand Constanze nicht, was die junge Frau sagte. Aber sie sah, wie die kleine Gestalt zu zittern begann. Ihrem Kleidungsstil nach zu urteilen, dunkelbrauner Faltenrock, braune Halbschuhe und graue Wolljacke, schien sie schon älter zu sein. Constanze legte ihr sanft ihre Hand auf die Schulter, während sie sich nach unten bückte, um den Gegenstand aufzuheben.
„Was ist denn hier los?“, die Frage schoss ihr aus dem Mund während sie noch die Schachtel beäugte, die sie soeben aus einer Pfütze gefischt hatte. Vogelfutter.
Als sie wieder stand sah sie der Gestalt ins Gesicht. Ohne Überraschung sah sie in das alte und faltige Gesicht einer Frau.
„Ist das Ihre?“, sie hielt ihr die Schachtel hin.
Die Frage war eigentlich sinnlos, Constanze hatte ja gesehen wie der Frau das Futter aus der Hand gefallen war. Aber deren Gesicht war so blass und die Augen immer noch weit aufgerissen, dass sie hoffte sie mit ihrer Frage irgendwie beruhigen zu können. Die Alte riss ihr die Tiernahrung so heftig aus der Hand, dass sie kurz zusammen zuckte. Automatisch tätschelte ihre Hand die Schulter der Alten. Constanze war sich nicht sicher, wen sie damit beruhigen wollte – sich selbst oder die alte Frau? Ihr Herz geriet für ein paar Schläge außer Takt, als sie beobachtete, wie diese mit zitternden Fingern die Schachtel prüfte und sie dann fest an ihre Brust drückte.
„Sie ist mir einfach vors Fahrrad gelaufen!“, die junge Frau schob sich vor sie beide. Ihre Stimme hatte einen beschwichtigenden Tonfall.
Einen Moment lang starrte Constanze dem Mädchen direkt ins Gesicht. Was hatte sie denn mit ihren Augen gemacht? Völlig schwarz umrandet verlieh die Schminke den ansonsten sehr sanften Gesichtszügen etwas Hartes. Und der Lippenstift! Dunkelblau. Sah aus, als wären ihre Lippen nicht durchblutet. Sie zog ihre Augenbrauen zusammen:
„Du kannst ja auch nicht einfach so den Fahrradweg entlangrasen...“
Tiefe Falten erschienen auf der Stirn der jungen Frau. Um ihren Mund verspannte sich die Haut für einige Augenblicke. Dann holte sie tief Luft:
„Hallo? Sie sagen es! Das hier ist ein Radweg. Wieso läuft die Frau ohne zu gucken einfach los? Dann ist sie auch noch total dunkel angezogen – wie hätte ich sie denn rechtzeitig sehen sollen?“
Einen Moment lang starrte Constanze wie gebannt in das Flackern dieser Augen, die für das pechschwarze Haar viel zu hell wirkten. Dann sah sie von dem Mädchen hin zu der alten Frau und zu sich selbst. Waren Schwarz oder dunkelbraun die Modefarben diesen Winters? Ein breites Grinsen erschien auf ihrem Gesicht:
„Gut, dass Du wenigstens eine weiße Strumpfhose an hast...“
Die Worte klangen versöhnlich, im ersten Augenblick starrte die junge Frau sie an. Plötzlich schien sie zu verstehen und erwiderte Constanzes Grinsen.
Nachdem sie sich ausführlich entschuldigt hatte und Constanze versprochen hatte sich um die alte Frau zu kümmern, schwang sich die junge Frau auf ihr Rad. Constanze sah ihr noch einige Augenblicke hinterher, bis die Dunkelheit sie verschluckt hatte. Mit langsamen Schritten begleitete sie die Alte auf die Mitte der Straße, zu der Haltestelle der Straßenbahn. Diese stützte beinahe ihr ganzes Gewicht auf Constanzes linke Seite. Die Hand der Alten, die fest ihren Arm umklammert hielt, zitterte noch immer. Sie beäugte die kleine Frau aus den Augenwinkeln. Ohne Unterlass presste diese das Vogelfutter an ihre Brust. Erleichtert atmete Constanze auf, als sie das Gewicht der Frau an die Bank abgeben konnte. Dort angekommen strich die Alte mit zitternden Fingern wieder über die Packung. Ein seltsamer Anblick war das. Da wurde sie von einer Fahrradfahrerin beinahe umgefahren und das Einzige, was sie zu kümmern schien, war diese Schachtel.
„Geht es wieder?“, irgendwie wirkte die Frau leicht verwirrt.
„Ja, ja vielen Dank...“, für einen kurzen Augenblick sah sie auf und lächelte Constanze zu.
„Haben Sie es weit?“
„Nur drei Haltestellen.“
Constanze überlegte einen Augenblick. Vielleicht stand die Frau ja unter Schock? Dann wäre es sicher nicht gut sie alleine hier auf der Bank sitzen zu lassen. Wer weiß, ob sie sich überhaupt orientieren konnte? Einen Moment lang überlegte sie die Alte nach dem Datum zu fragen. Aber dann hatte sie eine bessere Idee.
„Kommen Sie, ich fahr Sie schnell nach Hause. Bevor Sie noch länger hier in der Kälte auf die nächste Bahn warten müssen.“, sie bot der Alten erneut ihren Arm an und lächelte ihr zu.
Zögernd sah diese sie an.
„Sie haben doch bestimmt einen Schreck gekriegt, als die junge Frau Sie angefahren hat. Es macht mir keine Umstände, ich muss sowieso in diese Richtung.“, das war glatt gelogen.
Sie musste irgendwie seriös wirken. Sonst kam die Frau vielleicht noch auf den Gedanken, dass sie sie überfallen wollte. Das war nun wirklich nicht ihre Absicht. Sie alleine hier sitzen lassen, ging aber auch nicht. Wenn sie einen Krankenwagen rufen würde, dann würden die von der Rettungsstelle sie wahrscheinlich für verrückt erklären. Die alte Frau schien ja völlig unverletzt.
„Aber nein, das ist doch nicht nötig...“
„Doch, doch! Kommen Sie die drei Stationen sind mit dem Auto ein Katzensprung!“, aufmunternd hackte sie sich bei der alten Frau unter.
Als diese mit langsamen Schritten wieder mit ihr die Straße überquerte bemerkte sie, dass sie ihr rechtes Bein leicht nachzog.
„Haben Sie sich verletzt?“, sie warf der Alten einen besorgten Blick zu.
„Nein, nein...“, diese schüttelte nur murmelnd ihren Kopf.
Dafür presste sie Packung Vogelfutter, wie einen Schatz, noch ein wenig fester an ihren Körper. Constanze seufzte leise.

1 Kommentar:

  1. Nach der "kreativen Pause" letzte Woche wieder ein Update im gewohnten Rhythmus.
    Ich hoffe die Pause bleibt eine Ausnahme :)
    Grüße
    Kryps

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