Montag, 19. Januar 2009

Im Esprit-Laden I


Rainer verließ mit schnellen Schritten das Café. Eine kalte Brise blies ihm entgegen. Hörbar atmete er aus. Warum musste Constanze nur immer so anstrengend sein? Er strich sich über das Gesicht, wie um die Gedanken an das Gespräch fortzuwischen. Dann sah er sich um. Er wandte seinen Kopf nach links und rechts, kniff seine Augen zusammen und runzelte die Stirn. Mit einem Mal hellte sein Gesicht sich auf, er hatte gefunden, was er suchte. Oder vielmehr: Wen er suchte. Seine Schritte beschleunigten sich, bis er nur noch wenige Meter hinter einer alten Frau herlief. Da drosselte er plötzlich sein Tempo. Was tat er hier eigentlich? Wieso lief er hinter dieser alten Dame her? Er kannte sie doch überhaupt nicht! Schnaubend sah er sich mit schnellen Blicken um. Doch dann wurde sein Blick von dem Rücken der alten Frau wieder eingefangen. Der langsam im Takt ihrer gemächlichen Schritten von hinten nach vorne wippte. Er hörte das „Klack-Klack“-Geräusch ihres Gehstocks, den sie mit festem Griff umschlossen hielt. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Später konnte er nicht erklären warum er die alte Frau angesprochen hatte, es war nicht seine Art wildfremde Menschen auf der Straße anzusprechen. Aber in diesem Moment, kurz nach 16:00 Uhr mitten in der Fußgängerzone fühlte es sich einfach richtig an. Mit einer schnellen Bewegung drängte er neben sie und räusperte sich.

„Guten Tag“. Es war nicht besonders originell, aber wie sonst sollte er eine fremde Frau ansprechen? Abgesehen davon, dass die Frauen, die er normalerweise ansprach, mindestens 50 Jahre jünger waren. Bei diesem Gedanken musste er breit Grinsen. Nur kurz, aber lang genug dass die alte Dame es wohl gesehen hatte. Sofort machte er wieder ein ernstes Gesicht. Die Frau war stehen geblieben, richtete sich auf, ihr Blick stieg langsam aus ihrem Inneren auf und sie begann ihn von oben bis unten zu mustern. Er versuchte ihrem Blick stand zuhalten, aber es wollte ihm nicht recht gelingen. Immer wieder wichen seine Augen ihr aus, während er mit seinem Schlüsselbund in der Jackentasche spielte. Er räusperte sich.
„Ich habe sie vorhin im Café sitzen sehen. Ich saß direkt an einem der Nachbartische. Wahrscheinlich haben sie mich überhaupt nicht bemerkt … wobei … meine Begleitung schon ziemlich laut war.“
Plötzlich lächelte die alte Dame und wackelte mit ihrem Kopf.
„Ja, ja, ich erinnere mich. Ihre Begleitung ist sehr temperamentvoll!“.
Sie ging schon wieder weiter und Rainer schlenderte neben ihr her.
„Ahm“
Es schien sie nicht zu stören, dass er neben ihr herlief und nach einer Weile brach sie wieder das Schweigen:
„Wo haben Sie sie denn gelassen?“
„Äh, wen?“ Rainer blieb kurz stehen und sah sie von der Seite an.
„Na, diese temperamentvolle junge Dame?“
„Achso, ja also, naja, wir hatten uns nur auf einen kurzen Kaffee verabredet. Nachdem wir alles geplant und organisiert haben ist jeder wieder seiner Wege gegangen.“
Wieso kam er sich auf einmal so dumm vor? Er dachte wieder an die heftige Diskussion mit Constanze und seufzte. Die Frau nickte zustimmend.
„Organisieren kann sie gut, oder?“
„Oh ja“, jetzt lächelte er, „sehr gut sogar. Ich würde fast sagen zu gut, wenn Sie mich fragen. Aber egal. Wenigstens eine in der Familie, die nie den Überblick verliert...“
„In der Familie?“
„Ja, sie ist meine Schwester.“, ein wenig affektiert fuhr er fort, „meine große Schwester! Zu dumm nur, dass sie nie bemerkt hat, dass auch ihr kleiner Bruder eines Tages erwachsen wurde.“
Die Frau lächelte und wackelte wieder wie zustimmend mit ihrem Kopf. Rainer fragte sich gerade warum er das jetzt eigentlich erzählte, als ganz beiläufig die nächste Frage kam:
„Kennen Sie Linda?“
„Wen?“ Er blieb einen Augenblick stehen und zog seine Stirn in Falten.
„Na das junge Mädchen, die mit mir im Kaffee saß. Meine Enkelin im übrigen.“
„Achso“ Sein Gesicht hellte sich ein wenig auf. „Nein, das heißt sie kam mir irgendwie bekannt vor, aber mir fällt nicht ein woher.“
Mit einem schiefen Lächeln fügte er hinzu:
„Wobei, Mädchen würde ich sie nicht mehr nennen.“
„Ach, Papperlapapp!“ Mit einer schnellen Handbewegung wischte sie seinen Einwand fort. Dann blieb sie stehen und sah ihn mit einem durchdringenden Blick an.
„Warum sind Sie mir eigentlich nach gelaufen?“
Rainer machte ein unschlüssiges Gesicht, zog die Achseln hoch und rollte ein wenig mit seinen Augen.
„Ich weiß es nicht. In dem Moment als ihre Enkelin das Café so schnell verlassen hat sahen Sie irgendwie so einsam aus. Wie sie da so langsam aufgestanden sind und bezahlt haben, naja, sie haben mir irgendwie...“, er brach ab.
„Leid getan?“ Ihre Augen blitzten einen Moment auf. Rainer seufzte und nickte.
„Ja, ich schätze das ist das Wort, wonach ich eben suchte...“
Die alte Frau zuckte mit ihren Achseln und ging wieder weiter. Rainer folgte ihr. Plötzlich blieb sie erneut stehen.
„Sagen Sie, haben Sie noch ein wenig Zeit?“
„Naja, eigentlich muss ich noch ein paar Weihnachtsgeschenke einkaufen. Habe mir extra dafür frei genommen, aber“, er seufzte und zuckte erneut mit seinen Achseln, „ich habs für heute sowieso schon aufgegeben. Wieso, was haben Sie vor?“
Sie lächelte.
„Ich brauche dringend einen neuen Schal, der alte hier ist, naja, sagen wir mal ein wenig aus der Mode gekommen...“, sie wies mit einem Kopfnicken auf den Schal, der um ihren Hals gebunden war. Soweit Rainer das beurteilen konnte schien er selbst gestrickt zu sein. Hellbraun mit Zopfmuster und Fransen an beiden Enden. Eigentlich sah er gar nicht so schlecht aus, aber bei genauerem Hinsehen konnte Rainer ein paar Löcher erkennen. Der Schal hatte wohl schon bessere Tage gesehen.
„Hmm, kein Problem – darf ich?“, mit diesen Worten bot er ihr seinen Arm an und sie hackte sich mit einem Lächeln bei ihm unter.
„Wie wäre es mit dem Esprit-Laden da vorne?“
Sie zog ihre Stirn in Falten.
„Ist der Laden nicht eher was für junge Leute?“
„Natürlich, aber wie wollen Sie einen Schal kaufen, der in Mode ist, wenn Sie in ein Null-Acht-Fünfzehn Kaufhaus gehen?“ Er lächelte sie an. Sie überlegte einen Moment bevor sie sein Lächeln erwiderte.
Am Eingang hielt sie ihn zurück.
„Ich bin Babett, nur falls uns eine dieser Verkäuferinnen ansprechen sollte.“
„Angenehm, Rainer.“ Feierlich reichte er ihr seine Hand. Sie nahm sie, schüttelte sie fest, grinste und zwinkerte ihm zu.
Nachdem sie eine Weile durch den Laden spaziert waren und über die anderen Käufer sprachen, die meisten waren weiblich und jung, kam nicht eine Verkäuferin auf sie zu, sondern ein junger Verkäufer. Er sah sehr fein, beinahe ein wenig zerbrechlich aus. Es wirkte so als würde er noch nicht lange in dem Geschäft arbeiten, wahrscheinlich fand er die Beiden auch ein wenig sonderbar, aber er gab sich die größte Mühe sie zu bedienen. Sie genossen es und stellten ihm die unmöglichsten Fragen über die Vor- und Nachteile der verschiedenen Modelle, ihre modische Bedeutung und und und. Babett schien richtigen Spaß zu haben. Immer wieder zwinkerte sie Rainer zu, während sie mit einem breiten Lächeln den Verkäufer löcherte. Rainer beobachtete wie wach das alte Gesicht plötzlich war und wie sehr es leuchtete. Sein Herz schlug ein wenig heftiger als sonst, er lächelte wie ein Honigkuchenpferd und fand, dass dies der schönste Vorweihnachtsnachmittag war, den er je erlebt hatte. Vielleicht abgesehen von ein paar wenigen in seiner Kindheit, an die er sich noch gerne zurück erinnerte.
Erstaunt stellte sie fest, dass gestrickte Schals mit Zopfmuster gerade wieder in Mode gekommen waren. Nach langem hin und her entschied sie sich für einen dunkelbraunen Schal, der ein optischer Blickfang war, wie der Verkäufer betonte, und ihr äußerst gut stand, wie ihr Rainer versicherte. Der Verkäufer schien erleichtert, als die Wahl endlich getroffen war und komplementierte sie zur Kasse. Dort gab es eine kurze, aber heftige Auseinandersetzung zwischen Rainer und ihr in Bezug darauf wer das gute Stück mit dem ausgefallenen Zopfmuster denn nun bezahlen würde. Der Verkäufer sah mit großen, hilflos wirkenden Augen von einem zum anderen und atmete erleichtert aus, als Rainer den Streit gewann und ihm seine Bankkarte über den Tresen schob. Feierlich drückte Babett dem jungen Kerl ihren alten Schal in die Hand. Der stand ein wenig bedröpelt da und folgte ihnen mit einem langen Blick, während sie lachend den Laden verließen. Im Raus gehen sah Rainer, wie die Kollegin ihm etwas ins Ohr raunte, woraufhin der junge Kerl mit den Achseln zuckte und den alten Schal unter dem Tresen verschwinden lies.

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