Donnerstag, 15. Januar 2009

Im Café II


Linda atmete hörbar ein und hakte ihre Oma fest unter. Es war glitschig auf dem Kopfsteinpflaster. Sie mussten vorsichtig sein, denn die alte Frau hatte längst nicht mehr so viel Standhaftigkeit. Sie schüttelte leicht ihren Kopf. Mit den Jahren wurde ihre Oma immer wunderlicher. Wieso kam sie denn auf die Idee jetzt mit dem Kehren des Gehsteiges anzufangen? Hatten sie nicht vereinbart, dass sie heute ihre Oma zum Kaffeetrinken abholen würde? Linda seufzte. Ihre Eltern hatten schon recht, die Oma wurde zunehmend vergesslicher. Sie kam auch immer öfter mit den Uhrzeiten durcheinander, es kam sogar vor, dass sie die Wochentage verwechselte. Tiefe Falten gruben sich auf Lindas Stirn ein. Verstohlen sah sie zu der alten Dame an ihrer Seite. Diese atmete schwer, der kleine Berg die Gasse hinauf schien ihr zu schaffen zu machen. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen. Linda schmunzelte, als sie bemerkte wie der Kopf ihrer Oma mit deren bedächtigen Schritten im Takt wippte. Unwillkürlich strich sie ihr leicht mit ihrer Hand über den Arm, als die Oma sich ein wenig enger an sie schmiegte. Was, wenn die alte Frau eines Tages vergessen würde ihre Herdplatte auszuschalten? Vielleicht stimmte es ja was ihre Eltern sagten und das Beste wäre Oma in ein Heim zu bringen. Heftig atmete Linda aus, dieser Gedanke war wie ein Schlag in die Magengegend.

Als sie endlich in die Wärme des alten Cafés traten ging Lindas Atem wieder ruhiger, während ihre Oma Mühe hatte Luft zu bekommen. Sie nickte den Verkäuferinnen hinter der Ladentheke kurz zu, als sie den zielstrebigen Schritten ihrer Oma in Richtung des Wintergartens folgte. Schon als Kind war sie oft mit ihr hier gewesen. Oma hatte sich dann meist mit irgendwelchen alten Freundinnen getroffen, während Linda mit ihrer heißen oder Eisschokolade heimlich kleine Tropfen auf die Tischdecke fallen lies und dabei zusah, wie sie sich zu lustigen Bildern verformten. Eine richtige Meisterin im Schokoladenflecken-Lesen war sie gewesen! Wie lebendig ihre Oma damals war - ganz anders als heute. Linda seufzte und sah der alten Dame in das faltige Gesicht. Schön sah sie aus, still, friedlich, wie sie gedankenverloren in den gefrorenen Garten sah.
„Was darfs denn heute sein?“ Die Bedienung, eine Frau um die vierzig, mit leicht auftoupierten halblangen, braunen Haaren, lächelte Linda freundlich zu. Linda überlegte einen Augenblick. Diese Dame bediente bestimmt schon seit 8 Jahren hier und obwohl sie nie ein privates Wort gewechselt hatten fühlte Linda sich sehr vertraut mit ihr. Schmunzelnd stellte sie fest, dass die Schokoladenflecken zum Glück vor der Zeit dieser Bedienung gewesen waren. Zögernd lächelte sie zurück und bestellte eine Tasse heiße Schokolade für ihre Oma und einen Milchkaffee für sich selbst, eigentlich wie immer. Seltsam, früher war es genau umgekehrt gewesen. Mit gerunzelter Stirn sah sie erneut zur anderen Seite des Tisches, wo die alte Frau immer noch völlig gedankenverloren den Garten betrachtete. Wie wäre es, wenn sie die Getränke einfach tauschen würden? Linda seufzte. Sie hätte sofort getauscht, wenn dafür ihre alte Oma wieder da gewesen wäre. Wie viele von den Freundinnen waren eigentlich noch am Leben? Sie stützte ihren Kopf mit der Hand auf und lies ihren Blick durch das Lokal schweifen. Drei? Zwei? Eine? Vielleicht keine mehr? Sie wusste es nicht, aber sie erinnerte sich dunkel dass Oma hin und wieder von einer Beerdigung erzählt hatte mit einem Namen, der ihr etwas hätte sagen sollen, was er aber selten tat. Das hatte Oma immer empört, schließlich war Linda mit praktisch jeder dieser Frauen bereits des öfteren im Café gesessen. Sie atmete langsam ein, ganz langsam, bevor sie im selben Tempo die Luft wieder ausatmete. Es gab ihr ein wenig Halt auf diese Weise ihren Körper wieder zu spüren. Wie es wohl sein mochte, wenn man praktisch alle seine Freunde überlebte? Jetzt sah sie ihrer Oma wieder direkt ins Gesicht. Fast wäre sie aufgestanden, um sie ganz fest zu drücken und ihr zu sagen, dass sie ganz sicher nicht allein war und ganz bestimmt so schnell nicht ins Heim müsse. Aber in diesem Moment kamen ihre Getränke. Die Bedienung berührte ihre Oma mit der Tasse am Arm. Linda zog ihre Augenbrauen hoch. War das Absicht gewesen? Als die alte Dame aufschreckte, wie jemand den man aus einem lange Schlaf geweckt hatte, legte sie ihr sanft ihre Hand auf den Arm und zwinkerte ihr zu:
„Es ist alles in Ordnung, Oma.“
Diese nickte schnell und murmelte immer noch ein wenig abwesend:
„Ja, ich weiß. Es ist nur – ich habe gar nicht bemerkt, dass Du schon bestellt hast...“
Sie lächelte ihrer Oma zu. Aufmunternd, wie sie hoffte. Wollte der Alten nicht zeigen, dass sie diese kurze Situation wieder an deren Verwirrtheit erinnerte und das Altenheim in ihren Gedanken erneut drohend aufleuchten lies. Zum zweiten Mal heute. Als hätte ihre Oma ihre Gedanken gelesen schnaubte sie hörbar. Linda sah fragend über den Tisch und wollte ihrem Gegenüber etwas antworten, als sie eine etwas schrille Stimme am Nachbartisch ablenkte.
Eine Frau, Anfang oder Mitte dreißig, sprach beschwörend auf ihren Begleiter ein. Als Linda sah wer dieser Frau gegenüber saß stockte ihr der Atem. War das nicht der Typ, der vorhin im Bäckerladen bei ihr eingekauft hatte? Der, der mit so einem seltsamen Betrag bezahlt und sie dann so süffisant angelächelt hatte? Ihr Gesicht versteinerte, während sie sich unwillkürlich gerade aufrichtete. Sie fühlte Wut in sich aufsteigen und ihre Augen formten sich zu Schlitzen. Sie hatte wohl etwas zu lange an den anderen Tisch gestarrt, denn der Typ drehte plötzlich den Kopf. Mit hochgezogenen Augenbrauen erwiderte er ihren Blick und schien zu überlegen woher er sie wohl kennen könnte. Linda spürte wie ihr Herz schneller schlug, als er ihr direkt in die Augen sah. Als sie spürte wie ihre Wangen heiß wurden senkte sie schnell ihren Kopf.
„Kennst Du den jungen Mann?“ Omas Stimme lies Linda zusammen zucken.
Jetzt war sie es, die etwas verwirrt war.
„Welchen jungen Mann?“ Linda versuchte Zeit zu gewinnen und sah ihre Oma an, ohne sie jedoch wirklich wahr zu nehmen. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander.
„Hmm, ich rede von dem jungen Mann am Nachbartisch, den Du eben noch angesehen hast.“
„Ach der...“ Lindas Wangen glühten noch ein wenig mehr, als sie darüber nachdachte wie sie ihrer Oma von der peinlichen Situation im Bäckerladen erzählen würde. Schnell fuhr sie fort:
„Nein, ich denke nicht.“
„Aber er gefällt Dir?“
Linda sah ihre Oma nicht direkt an, sie war zu abgelenkt von ihrem eignem Gefühlskarussel, das in ihr wirbelte. Eine Mischung aus Scham, Wut und Angst, begleitet von dem heftigen Schlag ihres eigenen Herzens. So hörte sie weder den verschwörerischen Ton in der Stimme der anderen Frau, noch sah sie wie deren Augen plötzlich aufblitzten und die alte Dame für einige Augenblicke um Jahre jünger aussah. Wäre Linda nicht so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, dann hätte sie innerlich Luftsprünge gemacht ihre „alte“ Oma wieder zu haben. Mit Freude hätte sie sich mit Oma über diesen seltsamen Typen ausgetauscht.
So aber bekam sie plötzlich ein schlechtes Gewissen. Wenn sie schon mit ihrer Oma Kaffeetrinken ging, dann sollte sie sich nicht von anderen Dingen ablenken lassen. Mit ehrlichem Interesse antwortete sie:
„Wie geht es eigentlich Deiner Hüfte?“
Das Thema schien die gebrechliche, alte Frau zu bedrücken. Linda konnte förmlich beobachten, wie die alte Dame in sich zusammen sackte. Bestimmt hatte sie Schmerzen. Sanft strich sie ihr übers Gesicht und zwinkerte ihr aufmunternd zu.
Zufällig streifte ihr Blick ihre Armbanduhr und ihr Atem stockte einen Moment.
„Oh, Oma! Mein Gott es ist ja schon fast vier! Ich muss um vier wieder im Laden sein!“ Schnell stand sie auf. Es tat ihr Leid, dass sie das Kaffeetrinken so abrupt abbrechen musste. Als sie Omas Blick spürte drückte sie sie noch mal ganz fest.
„Es tut mir leid Oma, aber ich kann Dich heute nicht mehr nach Hause begleiten.“
Ihre Oma griff ihre Hand und drückte sie fest: „Ist schon in Ordnung, ich kenne den Weg ja. Beeile Dich, dass Du nicht zu spät kommst, ich zahle.“
„Danke Oma“, Linda lächelte, „Ich ruf Dich an, ja?“
Sie zwinkerte der alten Frau zu, bevor sie mit schnellen Schritten durch den Laden eilte. An der Ecke drehte sie sich noch einmal um und winkte ihr zu. Fast hätte sie ihr eine Kusshand zugeworfen, aber dann fiel ihr der Typ wieder ein und sie lies es bleiben.
„Ich hab Dich lieb, Oma“, murmelte sie bevor sie den Laden verließ.
Kaum auf der Straße angelangt, begann sie zu rennen.

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