Donnerstag, 18. Dezember 2008

Hauptstrasse I

Rainer hatte immer noch ein leises Lächeln um seine Mundwinkel, als er ungefähr fünf Minuten später bei dem kleinen Buchladen in der Fußgängerzone kurz inne hielt. Mit einem schnellen Handgriff überprüfte er, ob die beiden Kuchenstücke noch ohne Quetschgefahr in seiner Tasche lagen. Sein Blick streifte im Vorbeigehen flüchtig die Auslage der zwei kleinen Schaufenster des Buchladens. In der breiten Straße, die links und rechts von Geschäften begrenzt wurde, war bereits alles auf die Vorweihnachtszeit eingestellt. Mit Lichterketten behangene Tannenzweige verbanden alle paar Meter die Häuser zu beiden Seiten. Eigentlich sah diese Dekoration nicht schlecht aus. Die großen weiß-leuchtenden Sterne, die genau in der Mitte der Straße mit einer Spitze nach unten hingen bereiteten Rainer dennoch jedes Jahr ein unwohles Gefühl, wenn er unter ihnen entlanglief. Aber es war ohnehin besser sich immer schön an der rechten Seite der Straße entlang zu drücken, zumindest wenn am Abend oder an den Wochenenden die Fußgängerzone voll mit Menschen war.
Aber nachmittags unter der Woche war die Straße im Vergleich dazu relativ menschenleer und Rainer schlenderte sie langsamen Schrittes entlang. Obwohl er das Gefühl hatte alle Zeit der Welt zu haben schien es ihm Mühe zu bereiten das Schlendern durchzuhalten. Alle paar Meter ertappte er sich dabei wie er gewohnheitsgemäß das Tempo anzog. Er legte seine Stirn in Falten und wandte den Kopf immer wieder von einer Seite zur anderen, um mit schnellen Blicken die Auslagen in den Schaufenstern zu erfassen. Bei manchen Geschäften blieb er stehen, und nahm die angebotenen Produkte genauer in Augenschein. Er schien es selbst nicht zu bemerken wie dann jedes Mal sein linker Fuß mit hoher Frequenz auf- und abwippte. Die Geschäfte auf der linken Seite der Straße nahm er nur kurz ins Visier. Nichts schien interessant genug um ihn zum Wechseln der Seite zu bewegen. Mittlerweile war er bereits die halbe Strecke bis zum Weihnachtsmarkt gelaufen und das leise Lächeln war längst nicht mehr auf seinem Gesicht zu sehen.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen und verschobenen Lippen betrachtete er gerade die Pralinenauslage in einem Café, als verschiedenstimmiges Raunen und Kichern ihn aufsehen lies. Zunächst sah Rainer nur Menschen, die sich im Laufen umdrehten und tuschelnd ihre Köpfe zusammensteckten. Ein paar Jugendliche lachten laut auf und deuteten mit den Fingern, bevor sie halb umgedreht und mit großen, weit aufgerissenen Augen weitergingen. Einer tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn und schüttelte seinen Kopf. Rainer folgte ihren Blicken und konnte zunächst nichts Auffälliges erkennen. Er sah dort nur ein junges Mädchen mit einer grünen Strickmütze. Interessanterweise hatte diese Strickmütze ein Schild, wie ein Baseballcap. Unter dieser Kopfbedeckung quollen ein paar dicke blonde Strähnen hervor. Rainer schätzte sie auf ungefähr 20 Jahre. Sie sah eigentlich ganz normal aus, wie sie sich mit völlig ausdruckslosem Gesicht ihren Weg bahnte. Es schien als würde sie das Aufheben um sie herum überhaupt nicht bemerken, und wenn, dann keinesfalls auf sich beziehen. Tatsächlich machten die Menschen ihr Platz und wichen ein paar Schritte zur Seite, während sie ihr ihre Köpfe nachdrehten. Neugierig ging Rainer ein paar Schritte näher. Als das Mädchen auf seiner Höhe angekommen war, sah er mit einem Mal warum die Passanten so aufgeregt reagierten. Sie zog etwas an einer Paketschnur hinter sich her zu dem sie sich immer wieder umdrehte und hinunterbeugte. Jetzt schnalzte sie auch mit ihrer Zunge und schien das Ding hinter sich zur Eile antreiben zu wollen. Rainer starrte nun genauso wie die anderen Passanten auf das Mädchen und von dem Mädchen zu diesem Ding hinter ihr und wieder zurück. War das eine Banane??? Er rieb sich die Augen, schüttelte seinen Kopf und starrte erneut zu dem gelben Ding am Ende der Paketschnur. Seine Pupillen weiteten sich ein wenig. Zweifellos, dieses Mädchen zog eine Banane hinter sich her und benahm sich so, als würde sie mit einem Hund spazieren gehen.
`Oh mein Gott!´, schoss es ihm durch den Kopf, `so jung und schon verrückt!´.
Dieser Gedanke war eigentlich albern, aber wenn Rainer das Wort verrückt hörte, dann dachte er immer an verwahrloste, sabbernde und bedauerungswürdige Gestalten. Zum Glück hatte er normalerweise nichts mit Verrückten zu tun. Der Anblick dieses Mädchens flößte ihm Unbehagen ein. Wie konnte jemand der so normal aussah offensichtlich den Verstand verloren haben? Hatte sie denn keine Eltern, die sich um sie kümmerten und dafür Sorge trugen, dass sie sich nicht so blamierte? Wenn man Verrücktheit niemanden ansah, wer konnte ihm dann garantieren, dass er normal bleiben würde?
Rainer beobachtete wie sich dem Mädchen zwei Halbstarke junge Kerle anschlossen, die grölend hinter ihr herliefen. Er stockte einen Moment bevor er mit einem schnellen Ruck neben diesem kleinen Zug herlief. Verrückt sein war ja eine Sache, aber dafür von zwei pöbelnden Jungs verfolgt zu werden eine ganz andere. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, während er mit zusammengepressten Lippen das Trio, im Abstand von etwa 3 Metern, seitlich begleitete.

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